Agitation Free zählte in der ersten Hälfte der 70er zu den führenden Vertretern der deutschen experimen- tellen Rockmusik. Ab 1972 erlangte sie mit einer "eigenständigen Mischung aus improvisiertem Rock, gepaart mit Elektro-, Ethno-, Jazz- und Trance-Elementen" (FANPAGE) eine wachsende Anhängerschaft. Später experi- mentierten sie bei Konzerten mit Flüssigkeitsprojektoren, Dias und selbstgedrehten Experimentalfilmen, wie es schon einschlägige Gruppen im kalifornischen und englischen Underground präsentiert hatten. "Erst später sollte sich zeigen, daß der Experimentier-Zirkel Agitation Free Inspiration und Katalysator für zahl- reiche Musiker und Gruppen war" (ROCK IN DEUTSCHLAND) und sozusagen ein "Schmelztiegel der frühen Berliner Rockszene bildete" (KRAUTROCK MUSIKZIRKUS).

Die Ursprünge der Band-Geschichte lagen im Jahr 1965. Zu Beginn des Jahres hatten Lutz 'Lüül' Ulbrich mit Christoph Franke, beeinflußt durch die Beatles, eine Gruppe namens The Tigers gegründet, die sich wenig später in The Sentries umbenannte. Gitarrist Ludwig Kramer hatte etwa zur gleichen Zeit mit Mi- chael Günther und weiteren Musikern eine Rockband ins Leben gerufen, die hauptsächlich Rhythm & Blues-Titel nachspielte. Im Herbst 1967 schlossen sich beide Gruppen zusammen. Diese neue (noch) na- menlose Gruppe bestand aus Ulbrich, Franke, Kramer und Günther und zeitweise Michael 'Micki' Duwe (voc). Letzterer gehörte zum Ensemble der Berliner Aufführung des Musicals 'Hair'. Ebenfalls von Sentries wurde noch der Roadie und Bandorganisator Roland Paulick engagiert und Folke Hanfeld, ein Bruder des alten Sentries-Bassisten, der sich mit mit Lightshows, Filmemachen und Mixed-Media beschäftigte. Auf dessen Initiative war auch der Name Agitation entstanden – er hatte ein Wörterbuch aufgeschlagen und den Finger irgendwo hineingehalten. Agitation spielte damals noch vornehmlich Cover-Songs, haupt- sächlich aus dem Rhythm & Blues-Bereich. Eines Tages improvisierte Kramer während einer Bandprobe auf der Gitarre ein Stück aus der Georges Bizet-Oper 'Carmen'. "Dies war wohl die Geburtstunde unserer freien Improvisationen, unabhängig von irgendeinem Songschema" (GÜNTHER).

Michael Duwe blieb nicht lange bei Agitation Free. 1973 wirkte er als Sänger für das Ash Ra Tempel- Album 'Seven Up' mit, das gemeinsam mit dem US-Drogenpapst Timothy Leary († 1996) in Bern entstan- den war. Später veröffentlichte er unter dem Namen Mickie D's Unicorn ein selbstbetiteltes Debüt auf Klaus Schulzes IC Label.

Unter den Fittichen des Architekturstudenten Volker Cornelius avancierten Agitation neben Kluster, Curly Curve und Tangerine Dream zu einer der Hausbands des ersten Westberliner Underground-Ladens "Zodiac" in der Schaubühne am Halleschen Ufer 32 in Berlin Kreuzberg. Knapp ein Jahr nach der Eröffnung wurde das"Zodiac"wegendersichdort breitmachendenDrogenszenenacheinigenRazziengeschlossen.Agita- tion wechselte zum Beautiful Balloon am Lehniner Platz, dem ehemaligen Domizil des "Kabaret der Ko- miker" in den 20ern. Dort spielte die Band meistens bis in die frühen Morgenstunden.

In der Berliner Underground-Diskothek Sun, in der auch Burghard Rausch als DJ arbeitete, lernten Kramer und Günther den flötenspielenden und ziemlich ausgeflippten Manfred Peter Brück kennen, der sich John L. nannte. Der hatte von der Westberliner "Springerpresse" den Namen "Der Hippiekönig von Berlin" ver- paßt bekommen. Er wurde zu den Band-Proben eingeladen und betätigte sich dort fortan als Sänger – spielte meistens jedoch Maultrommel und gab bekifft Laute von sich. Bei einem Auftritt im Berliner Qua- simodo 1969 wurde dann der Bandname geändert. In Nord-Berlin sollte damals eine weitere Gruppe mit dem Namen Agitation existieren. An der Tür des Quasimodo stand mit Kreide der Bandname Agitation, darunter das Wort "FREE" (für freien Eintritt). Das war die Inspiration zum neuen Namen Agitation Free. John L. hatte allerdings mit seiner Drogenabhängigkeit zu kämpfen und starb im September 2007 an Krebs.

Im Herbst stellte die Volksmusikhochschule den Gruppen Agitation Free, Ash Ra Tempel und Tangerine Dream einen Übungsraum zur Verfügung – mit angeschlossenem Studio, und als "Lehrer" den Schweizer Komponisten Thomas Kessler, einen der Pioniere der elektronischen Musik. Durch Kesslers Vermittlung ko- operierte Agitation Free mit Komponisten der Avantgardeszene wie z.B. John Cage und Peter Michael Hamel. Im Winter führte die Band in der Waldschule ihre Mixed Media Show 'Intermedia' auf. Der gesamte Raum wurde mit Dia- und Flüssigkeitsprojektoren belichtet, eine Wand war mit Fernsehern bestückt, ein Spezialprojektor warf den Überlebenskampf von überhitzten Ameisen und Mehlwürmern auf eine Lein- wand und der Fußboden war mit aufgeblasenen Schwimmreifen in LKW-Größe ausgelegt. "Ein Riesenhap- pening" (GÜNTHER), das die Gruppe allerdings in dieser Intensität nicht wiederholen konnte. Beim ersten deutschen Popfestival trat Agitation Free im April 1970 im Berliner Sportpalast auf.

Kramer wohnte danach eine Zeit lang in der berühmt/berüchtigen "Kommune 1" in Westberlin. Er schloß sich der kurzlebigen Berliner Band Walpurgis, allerdings erst nach deren Debüt 'Queen Of Saba' (1972), an und lebte einige Jahre in Thailand. Bei Agitation Free wurde im Sommer 1970 Jörg Schwenke der neue Gitarrist. Der hatte vorher bei den Shatters gespielt, die zeitweise als Begleitband für die Schlagersängerin Manuela agiert hatte.

Ein 71er Agitation Free-Konzert avancierte zur Abschiedsvorstellung von Schlagzeuger Christopher Franke, der zu Tangerine Dream wechselte.

Bis zum Herbst ersetzte ihn Gerd Klemke (dr, ex-Garlick Generation). Sein Nachfolger wurde, durch Ver- mittlung von Klaus Schulze, der Schlagzeuger Burghard Rausch. Vorher war Michael Hoenig bei der Gruppe eingestiegen. "Zum Jahresende trainierte Kessler die neue Agitation Free-Besetzung Ulbrich, Schwenke, Günther, Hoenig (syn, electr.) und Rausch (dr, perc) in Gehörbildung, Harmonielehre und Rhythmik" (ROCK IN DEUTSCHLAND). Im Frühjahr 1972 absovierte Agitation Free auf Einladung des Goethe-Instituts eine erfolg- reiche Tournee durch Ägypten, den Libanon, Zypern und Griechenland. In der libanesischen Hauptstadt Beirut lernten sie Assaad Debs kennen, einen Libanesen mit Wohnsitz in Paris, der mit ihnen eine Frank- reich-Tournee buchen wollte. Das war der Beginn einer langen Freundschaft und einer erfolgreichen Zu- sammenarbeit – Debs organisierte alle Frankreich-Tourneen für Agitation Free, Ash Ra Tempel, Klaus Schulze und Can und führt heute mit Corida eine der gößten Konzert-Agenturen in Frankreich.

Im Sommer erschien mit 'Malesch' das Agitation Free-Debüt, das im Berliner Audio Tonstudio aufgenom- men wurde und das unter den Eindrücken der Nahost-Tournee entstanden war. "Hier wurden die vielfältigen Eindrücke ihrer abenteuerlichen Tournee umgesetzt. Es entstand ein faszinierendes Klanggewebe aus teils feinglied- rigen, teils massiven Passagen, in ausdrucksvoller Verbindung mit fremdartig klingenden Original-Tonbandauf- nahmen dieser Nahost-Reise" (POP). 'Malesch', was auf arabisch so viel wie "egal auch/macht nichts" bedeutet, war ein "sehr dichtes, abwechslungsreiches Album. Das intensive Zusammenspiel der beiden Gitarristen, zusammen mit Hoenigs Keyboards, erzeugte oft eine sehr faszinierende, hypnotische Atmosphäre, die manchmal an das of- fensichtliche Vorbild Pink Floyd gemahnte – ist aber sicherlich ein Klassiker des deutschen Progs" (BABYBLAUE SEI- TEN).

Im Spätsommer zog die Gruppe dann für 10 Tage mit dem Lehrer und Hörspielautor Alfred Bergmann in ein altes Bauernhaus, um zu diskutieren und zu musizieren. Zusammenschnitte dieses gesammelten Ton- materials mischte Bergmann mit Live-Mitschnitten der Band zu der 90-minütigen Tonkollage 'Agitation Free – Portrait einer Musikgruppe', die im April 1973 vom Sender Freies Berlin ausgestrahlt wurde.

Während der XX. Olympischen Sommerspiele, im September 1972 in München, traten Agitation Free auf der Olympischen Spielstraße mit Peter Michael Hamel als Gast-Keyboarder auf. Das Kulturprogramm der Spielstraße wurde am 5. September, nach dem Attentat der palästinensischen Terrorganisation "Schwarzer September" auf israelische Sportler, gestoppt.

Anfang 1973 wurde Dietmar Burmeister (perc, dr) als zusätzliches Mitglied integriert. Danach gingen Agi- tation Free für zwei Monate auf eine ausgedehnte Frankreich-Tournee und absolvierten dabei einen Auf- tritt bei der populären Radio-Musiksendung 'Rock En Stock' und spielten in der französischen Radiosendung 'Pop Club'. Nach dieser Tournee wechselte Stephan Diez (g) für den drogenabhängigen Jörg Schwenke zur Band (Jörg Schwenke starb an seiner Drogensucht im Mai 1990.) Im Frühjahr trat die Band, neben Amon Düül II, Atlantis, Birth Control, Karthago, Gift, Guru Guru, Kraan und Kin Ping Meh beim 'German Rock Super Concert' in der Frankfurter Festhalle, letztmalig als Sextett auf.

Im Sommer wurde die zweite LP '2nd' (1973) veröffentlicht, die im Studio 70 in München aufgenommen worden war. Darauf war zwar "nichts unbedingt Neues oder Umwerfendes zu vernehmen, dafür aber fast 45 Mi- nuten entspannte Musik" (SOUNDS). Kurz nach den Aufnahmen verließ Diez die Band wieder und spielte u.a. mit Al Jarreau, Bobby McFerrin, Mercedes Sosa und Joan Baez und war Professor für Jazzgitarre in Ham- burg. Er starb im Februar 2017. Als neuer Gitarrist wurde der Flensburger Gustav 'Gustl' Lütjens verpflichtet, mit dem es Anfang 1974 gleich auf die nächste Frankreich-Tournee ging. Allerdings waren Agitation Free da bereits von ersten Ermüdungserscheinungen geprägt. Nach einem aufgezeichneten Konzert im Februar 1974 beim WDR in Köln, im Rahmen der Radio-Sendung 'Nachtmusik', gab die Band am 21. April 1974 in Paris das letzte Konzert in der Besetzung Ulbrich, Lütjens, Hoenig, Günther und Rausch. Am 12. No- vember löste sich die Band auf – nach einem Abschiedkonzert mit (fast) allen ehemaligen Mitgliedern in Berlin.

Gustl Lütjens avancierte zum gefragten Studiomusiker, tourte unter anderem mit Shirley Bassey und Nena. Er veröffentlichte gemeinsam mit dem Produzenten Wolfgang Loos unter dem Namen Satu das Album 'Wave' (1986) und fand später mit seiner New-Age-Band Living Mirrors, die er mit dem Keyboarder Peter Freimanis ins Leben gerufen hatte, hauptsächlich in den USA ein großes Publikum. Als Solist veröffent- lichte Lütjens die Alben 'Keine Liebe, Kein Voran' (1991) und 'Contact' (1993). Gustl Lütjens starb im Sep- tember 2017 an Krebs.

Michael Hoenig arbeitete kurze Zeit mit Klaus Schulze (unter dem Projektnamen Timewind) und absol- vierte mit Tangerine Dream eine Australien-Tour, ehe er mit seinem Soloalbum 'Departure From The Nort- hern Wasteland' (1977), bei dem er sich von seinem Bandkollegen Ulbrich (g), Mickie Duve (Metropolis) und Uschi Obermaier (voc) unterstützen ließ, weltweiten Erfolg hatte. Außerdem machte sich Hoenig in

Hollywood als Film-Komponist und als Produzent für zeitgenössische Klassik einen Namen. Er arbeitete u.a. mit so unterschiedlichen Künstlern wie Miles Davis, Phillip Glass, Don Preston, Morton Subotnick, Harold Budd und Jack Nitzsche zusammen.

Burghard Rausch wechselte vorerst die Seiten und betätigte sich zunächst als Rundfunk-Moderator beim RIAS-Berlin, veröffentlichte Musik-Lexika und arbeitete dann als Musik-Redakteur bei Radio Bremen. 1978 war er Mitgründer der Rockband Bel Ami, die mit der deutschen Cover-Version von Berlin bei Nacht einen mittleren Hit hatten. Außerdem agierte er sporadisch immer wieder als Schlagzeuger bei Electric Family, der "Krautrock-Supergroup" von Tom Redecker (voc, g).

Michael Günther arbeitete als Roadie und Bühnenmanager, wurde technischer Koordinator beim Berliner Jazzfest und versuchte Agitation Free in verschiedenen Konstellationen am Leben zu erhalten. Bei den un- terschiedlichen Besetzungen wirkten u.a. die ehemaligen Kollegen Gustl Lütjens, Dietmar Burmeister, Mik- kie Duwe mit. Michael Günther verstarb im März 2014.

Christian Kneisel veröffentlichte 1983 mit 'Gala' ein Synthie-Pop-NDW-Soloalbum, bei dem er sich von Teilen des Who-Is-Who der Westberliner Szene, wie George Krantz (dr, perc, beide ex-Zeitgeist), Else Nabu (voc, ex-Insisters) und Frieder Butzmann (ex-Din A Testbild) begleiten ließ.

Lutz Graf-Ulbrich zog nach dem 74er Ende von Agitation Free als Straßenmusiker durch Frankreich, schloß sich danach immer wieder mal Ash Ra Tempel an, lernte bei einem Festival in Frankreich 1973 die Sän- gerin Nico (ex-Velvet Underground) kennen und bildete mit ihr die nächsten Jahre ein Paar. So begleitete er Nico ab 1976 als Gitarrist auf Tourneen in Spanien, Frankreich, die Niederlande, Kanada und die USA. Dabei kam es auch zu legendären Konzerten mit John Cale (ex-Velvet Underground) im CBGB's in New York und mit der Singer/Songwriter-Legende Tim Hardin im Whiskey A Go Go in Los Angeles. Lüül veröf- fentlichte seitdem diverse Soloalben, komponierte Theatermusik, schrieb eine Autobiografie, trat als Solist, im Duo und mit seiner eigenen Band auf und feiert seit Ende der neunziger Jahre weltweite Erfolge mit den 17 Hippies.

Das posthume 76er Agitation Free-Album 'Last' basierte teilweise auf dem Radiokonzert bei 'Rock En Stock' von 1973 und einer Studiosession beim RIAS Berlin vom Februar 1974. 1995 erschienen mit 'Fragments' Aufnahmen aus dem Jahr 1974 und drei Jahre später mit 'At The Cliffs Of River Rhine' (1998) ein Liveal- bum, das Ausschnitte des 74er 'Nachtmusik'-Konzertes enthielt. 1998 dann trafen sich Graf-Ulbrich, Lüt- jens, Günther und Rausch bei einem Geburtstagsfest des Gruppengründers Lüül und beschlossen spontan die Fortsetzung der gemeinsamen Arbeit.

1999 fanden sich dann diese vier zusammen, um unter der Produktions-Regie des ex-Spliff-Gitarristen Bernd Potschka mit 'River Of Return' ein neues Album aufzunehmen. Im gleichen Jahr erschien noch mit 'The Other Side Of Agitation Free' ein Album mit Aufnahmen aus dem Jahr 1974 mit den unterschiedlich- sten Besetzungen.

Im Februar 2007 absolvierten Agitation Free eine Serie von Konzerten in Japan – auf Einladung des Ge- schäftsmannes Gen Fujita, der die Band nach einer Pause von 33 Jahren in der 74er Besetzung auf der Bühne sehen wollte. Die ausverkaufte Reunion-Tour wurden zum großen Erfolg. Alle Auftritte wurden mit- schnitten und das Ergebnis war das in England bei ESOTERIC RECORDS veröffentlichte Album 'Shibuya Nights' (2011): ein Beweis dafür, daß die Gruppe Agitation Free "immer noch als eine der besten und originellsten Bands in der Progrockszene zu zählen war" (HAMBURGER MORGENPOST).

Agitation Free sind auf der sogenannten "Nurse With Wound-Liste" aufgeführt, einer Liste der Londoner Avantgarde-Gruppe Nurse With Wound (Steven Stapleton, John Fothergill, Herman Pathak). Diese Liste ist als Hommage an die Künstler gedacht, die das Nurse With Wound-Projekt beeinflußt haben. Seitdem ist diese Liste eine Art "Einkaufsliste" für Sammler von Outsider- und Avantgarde-Musik geworden.

Zuletzt arbeitete die Gruppe in Quartett-Besetzung (Graf-Ulbrich, Hoenig, Cordes und Rausch) an einem Studioalbum, einem "Alters-Werk des Sonderklasse" (M.I.G.).